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Jugend und Europa
Junge Menschen für Europa begeistern?

 

Auf Schienen durch Europa - Sophie Hausmann

 

Endlich 18, endlich frei, endlich die Welt entdecken, genau genommen: endlich Europa entdecken. Die EU-Initiative „DiscoverEU“ macht genau das möglich. Seit 2018 gibt sie 18-Jährigen aus ganz Europa die Chance, Europa zu bereisen – und zwar per Bahn, mit einem gratis Interrail- Ticket. Einzige Voraussetzung: Man muss sich bewerben und eines der begehrten Tickets ergattern.

Mehr als 100.000 junge Leute aus allen EU-Ländern haben sich in der ersten Runde von „Discover EU“ im Sommer 2018 beworben, 15.000 bekamen ein Gratis-Ticket für ihre Europa-Reise, das Europaparlament hatte dafür ein Budget von 12 Millionen Euro bereitgestellt. Weil die Aktion ein Riesen-Erfolg war, gab es im Herbst eine weitere Bewerberrunde. Für 2019 spendiert die EU weitere 16 Millionen Euro und gibt damit zehntausenden weiteren Jugendlichen die Möglichkeit, als Botschafter ihrer Heimat Europa zu entdecken. Was motiviert junge Bayern, auf Europareise zu gehen? Sophie Hausmann verrät es uns!

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Sophie Hausmann auf ihrem Interrail-Trip
@Sophie Hausmann

HERZKAMMER: Du warst im Sommer 2018 auf Interrail-Trip. Wo ging deine Reise hin?

SOPHIE HAUSMANN: Mein Ziel war, möglichst viele Länder zu sehen – und das hat auch geklappt: Ich bin von München nach Kopenhagen gereist, dann nach Stockholm, mit der Fähre nach Helsinki, hab einen Tagesausflug nach Estland gemacht und dann spontan auf dem Weg zurück einen Flug nach Barcelona gebucht. Von da ging’s über Marseille, Nizza und Verona zurück nach Hause.

HERZKAMMER: Was hast du unterwegs gelernt?

SOPHIE HAUSMANN: Dass man viele Vorteile hat, wenn man offen für neue Kulturen und Länder ist. Man lernt auch ein Stück weit, sich anzupassen, lernt, wie man mit anderen Leuten richtig umgeht und dass nicht nur die eigene Kultur die einzig „wahre“ ist. Ich war alleine unterwegs, aber das war überhaupt nicht schlimm, weil ich unterwegs ganz viele nette Leute getroffen habe. So ein Interrail-Trip fördert natürlich auch die Selbstständigkeit: Man lernt, auf sich selbst gestellt zu sein und auch mit kritischen Situationen zurechtzukommen. Wenn mal was nicht klappt, kann man halt nicht einfach die Mama anrufen, sondern muss sich alleine durchwurschteln.

HERZKAMMMER: Die Idee hinter „DiscoverEU“ ist ja auch, dass junge Leute als Kulturbotschafter für ihre Heimat unterwegs sind …

SOPHIE HAUSMANN: Und das ist teilweise auch dringend nötig: In Finnland sind ein paar Leute auf mich zugekommen und haben mich allen Ernstes gefragt, warum ich kein Dirndl trage. Ich hab nur gelacht und erklärt, dass ich auch kein Bier zum Frühstück trinke und nicht den ganzen Tag nur Leberkas-Semmeln esse.

Auf Schienen durch Europa - Johannes Rosenbusch



Johannes Rosenbusch, 18 Jahre, aus Bamberg, studiert Philosophie, Politik an der London School of Economics: „Ich weiß die Vorzüge der EU jetzt noch mehr zu schätzen!“

HERZKAMMER: Du warst 2018 unter den ersten 15 000, die ein Gratis-Tickets ergattert haben. Wie hast du auf den Gewinn reagiert?

JOHANNES ROSENBUSCH: Das war natürlich eine super Nachricht! Ich hatte noch keine anderen Pläne für die Sommerferien und das war DIE Chance auf eine große Reise, bevor es losgeht mit der Uni.

HERZKAMMER: Wo ging die Reise hin?

JOHANNES ROSENBUSCH: Ich bin gemeinsam mit zwei Freunden aus England und Frankreich gereist. Insgesamt waren wir knapp drei Wochen unterwegs quer durch die Ostblock-Staaten: Von Berlin über Warschau und Krakau, Bratislawa, Belgrad und Sofia bis nach Bukarest. Ganz bewusst haben wir uns Länder bzw. Regionen ausgesucht, die wir vorher noch nicht so gut oder gar nicht kannten.

HERZKAMMER: Hat dein Bild von Osteuropa sich durch die Reise verändert?

JOHANNES ROSENBUSCH: Es war generell eine tolle Erfahrung, Länder kennen zu lernen, über die ich zuvor kaum etwas wusste. Besonders begeistert war ich von Polen - ein Land mit tollen Städten, alle super sauber und ordentlich - in dem man deutlich die Aufbruchsstimmung merkt. Die jungen Leute dort sind alle sehr gebildet, sprechen super Englisch und sind extrem motiviert:  Die wollen was verändern, einen sozialen Aufstieg schaffen. Ich habe dort auch eine besonders große Begeisterung für die Europäische Union gespürt. Ein großer Kontrast dazu war Serbien, dem man noch deutlich ansieht, dass das vor 20 Jahren noch Kriegsgebiet war. Vieles ist noch sehr heruntergekommen und der Lebensstandard ist kaum vergleichbar mit dem in Deutschland. Abenteuerlich war zum Beispiel, als wir versucht haben, in Serbien zu unserer Unterkunft zu kommen – mit Fahrplänen auf Kyrillisch und mit Bussen, die meist einfach drauflos fahren und nur hier und da mal anhalten.

HERZKAMMER: Was hat dir der Interrail-Trip gebracht?

JOHANNES ROSENBUSCH: Man bekommt durch die Reise und den Kontakt zu den anderen jungen Leuten einen richtig guten Eindruck von den verschiedenen Ländern und ich weiß die Vorzüge der EU jetzt noch mehr zu schätzen: Dass man 28 europäische Grenzen überqueren kann ohne Passkontrolle -  das ist schon eine super Sache! Seit ich mit dem Zug von Belgrad nach Sofia gefahren bin - 13 Stunden für knapp 500 Kilometer - weiß ich außerdem, dass die Deutsche Bahn gar nicht so schlecht ist, wie Viele behaupten.

HERZKAMMER: Was ist für dich die wichtigste Erkenntnis aus deiner Reise?

Johannes Rosenbusch: Ich glaube, das wichtigste ist tatsächlich, zu merken, dass die jungen Leute in den anderen EU-Ländern genauso ticken wie wir. Dass sie die gleichen Ideen, Wünsche und Ziele haben, dass es also eigentlich gar keine Unterschiede zwischen uns gibt. Das ist schon eine sehr wichtige Erkenntnis und eine Erfahrung, die einem die Augen öffnen kann.

Auf Schienen durch Europa - Paul Kestler



HERZKAMMER: Wieso hast du dich beim Projekt „DiscoverEU“ beworben?

PAUL KESTLER: Ich hab über die Medien von der Aktion gehört und die Idee, gratis durch Europa zu reisen, hat mich sofort begeistert. Dass ich gewinne, hätte ich niemals gedacht, es gab ja wahnsinnig viele Bewerber. Toll fand ich die Möglichkeit, sich als Gruppe zu bewerben, dabei gilt dann das Prinzip: Wenn einer gewinnt, dürfen alle mit. Ich werde also im Sommer gemeinsam mit einem guten Freund auf Tour gehen. Im September fange ich meine Ausbildung als Immobilienkaufmann an - die Interrail-Reise ist davor nochmal ein echtes Highlight!

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Bereit für das große Abenteuer: Paul Kestler und sein Freund Jonas August mit einer Karte der Bahnstrecken durch Europa und der Gewinn-Bestätigung.
@Paul Kestler

HERZKAMMER: Was sind eure Reisepläne?

PAUL KESTLER: Zum Glück waren wir uns schnell einig, wo es hingehen soll: Wir fahren erstmal nach Italien und schauen uns Florenz an, dann geht’s weiter über Nizza und Barcelona nach Paris und von dort über Brüssel und Rotterdam nach Stockholm. 27 Tage Reise sind geplant, also für jede Stadt zwischen drei und fünf Tage. Wir haben uns bewusst für den flexiblen Interrail-Pass entschieden, da muss man sich nicht von vorherein auf bestimmte Züge festlegen, kann also auch mal spontan entscheiden, noch einen Tag länger zu bleiben. Um die Unterkünfte müssen wir uns selber kümmern, wahrscheinlich wird es auf Hostels und „AirBnB“ hinauslaufen. Vielleicht lernen wir ja auch vor Ort noch ein paar Leute kennen, die spontan einen Platz auf der Gästecouch frei haben.

HERZKAMMER: Was hältst du insgesamt von der Aktion?

PAUL KESTLER: Die Aktion ist auf jeden Fall eine super Sache und mal was ganz anderes als ein klassischer Urlaub. Vor allem, weil man ohne Eltern unterwegs ist und – für manche vielleicht zum ersten Mal – komplett auf sich alleine gestellt ist. Man lernt nicht nur viele Länder, sondern auch viele Menschen und ihre Kultur kennen. Man lernt die Sprache, man lernt Selbstorganisation - ich glaube, man lernt einfach richtig viel! Ich hoffe auch, dass das Projekt beim Abbau von Vorurteilen helfen kann. Mein Vorurteil über die Franzosen ist zum Beispiel, dass sie ein bisschen arrogant und stur sind. Ich hoffe, dass die Reise mir ein anderes Bild von Frankreich oder zumindest von den jungen Leuten in Frankreich vermitteln wird.

HERZKAMMER: Fühlst du dich auch ein bisschen als EU-Botschafter?

PAUL KESTLER: Das Botschafter-Dasein findet vor allem online statt: Es gibt jede Menge Communities, z.B. bei Facebook oder Instagram, in denen junge Leute aus ganz Europa ihre Fotos vom Interrail-Trip teilen und unter dem Hashtag #DiscoverEU von ihren Eindrücken und Erlebnissen berichten. Dadurch werden immer mehr Leute auf die Aktion aufmerksam und das wirft natürlich insgesamt ein positives Bild auf die EU.

HERZKAMMER: Worauf freust du dich am meisten?

PAUL KESTLER: Auf die langen Zugfahrten freue ich mich auf jeden Fall nicht…aber Spaß bei Seite: Am meisten freue ich mich darauf, viele andere junge Leute zu treffen, mit ihnen zu quatschen, sich auszutauschen. Natürlich sieht man auch einfach mal Ecken von Europa, die man noch nicht kennt. Die Möglichkeit, allein zu reisen und auf sein eigenes Organisationsgeschick zu vertrauen – das ist einfach eine tolle Chance. Die Reise ist insgesamt bestimmt eine gute Schule fürs Leben!

Erasmus+



Würde Erasmus von Rotterdam heute noch leben, hätte er garantiert gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt: gebildet, belesen, neugierig und vor allem: viel Auslandserfahrung. Erasmus von Rotterdam, einer der bekanntesten Humanisten seiner Zeit, blickte schon vor 500 Jahren gerne über den sprichwörtlichen Tellerrand, reiste in fremde Länder, um sich weiterzubilden und mit Menschen aus aller Welt in Kontakt zu treten. Sehr passend also, dass er der Namensgeber für eines der bekanntesten EU-Bildungsprogramme ist: Erasmus+, das EU-Programm zur Förderung von allgemeiner und beruflicher Bildung, Jugend und Sport in Europa. Mit einem Budget von 14,7 Milliarden Euro bis 2020 ermöglicht das Programm Millionen von Europäerinnen und Europäern, sich im Ausland weiterzubilden und Berufserfahrung zu sammeln. Wie Schüler und Lehrer davon profitieren, zeigt das Berufliche Schulzentrum Regensburger Land.

Wenn Beatrice Roth von ihrem Aufenthalt in Norwegen erzählt, gerät sie ins Schwärmen: „Die Menschen waren dort so offen, so herzlich, die haben mich aufgenommen wie eine Familie!“ Sechs Wochen hat die 17-Jährige in einem Hostel im norwegischen Oslo verbracht – aber nicht als Urlauberin, sondern als Praktikantin. Beatrice macht eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin am Beruflichen Schulzentrum Regensburger Land (BSZ). In Oslo konnte sie Erfahrung in der Hostel-Küche sammeln, die sie nicht missen will: „Ich hab wahnsinnig viel gelernt, bin stärker und selbstbewusster geworden.“

Jeder zweite Berufsschüler geht ins Ausland

Möglich war das Praktikum in Norwegen dank des Förderprogramms Erasmus+, das auch Auslandsaufenthalte für Berufsschüler unterstützt. Am BSZ Regensburg nutzen besonders viele Schüler diese Möglichkeit: Fast jeder zweite Schüler einer Berufsschulklasse verbringt während der Ausbildung mehrere Wochen im europäischen Ausland. „Vor elf Jahren haben wir mit einem kleinen Budget von 50.000 Euro angefangen, heute können wir mit mehr als 380.000 Euro rund 120 Schüler pro Jahr ins Ausland schicken“, erklärt Sabine Siedentop. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Sibylle Rößler koordiniert und organisiert sie die Auslandsaufenthalte. Zurzeit bietet das BSZ Aufenthalte in Norwegen, Irland, Griechenland und Österreich an. „Die jungen Leute profitieren enorm von den Auslandspraktika“, sagt Rößler. „Viele bewerben sich ganz gezielt an unserer Schule, weil sie wissen, dass wir Auslandsaufenthalte möglich machen.“

Kostenfrei dank Engagement der Lehrer

Viele wissen nicht, dass das Förderprogramm Erasmus+ sich längst nicht nur an Akademiker richtet. Und: Viele scheuen die hohen Kosten. Am BSZ Regensburg entstehen für die Schüler keine Kosten, der Auslandsaufenthalt wird komplett über das Erasmus-Budget finanziert. Möglich ist das nur, weil Lehrkräfte wie Sabine Siedentop und Sibylle Rößler viel Zeit, Engagement und Herzblut in das Projekt stecken: Anträge schreiben, Kontakte zu Einrichtungen knüpfen, Gastfamilien oder andere Unterkünfte finden, Ausflüge vor Ort organisieren – um alles kümmern sich die Lehrkräfte allein und zusätzlich zu ihrer normalen Lehrtätigkeit. „Inzwischen gibt es etliche Dienstleister, die Auslandsaufenthalte von A bis Z organisieren, aber das ist natürlich wahnsinnig teuer“, erklärt Sabine Siedentop. Zu teuer für die meisten Schüler, die dann auf das Abenteuer Ausland verzichten müssten.

Ideen aus dem Ausland mitgebracht

Hicran Kundakci ist angehende Kinderpflegerin und war dank Siedentops Engagement sogar schon zweimal im Ausland – erst in Irland, dann in Norwegen. „Am liebsten würd ich sofort wieder hinfliegen“, schwärmt die 25-Jährige. Nicht nur ihre Englischkenntnisse haben sich durch die Auslandspraktika verbessert, sie hat auch viele Ideen aus dem Ausland mit nach Bayern gebracht, geht jetzt zum Beispiel häufiger mit ihren Kindergartenkindern in den Garten: „Sowohl in Irland als auch in Norwegen sind die Kinder viel mehr draußen als bei uns, egal ob es kalt ist oder regnet. In Deutschland lassen wir uns einfach viel zu oft vom schlechten Wetter abschrecken!“

Vom Ausland gelernt hat auch Hauswirtschafterin Katharina Wankerl, die ein dreimonatiges Praktikum in einem Internat auf den norwegischen Lofoten absolviert hat. Besonders beeindruckt war sie vom Gesundheitsbewusstsein der Norweger: „Dort wird alles frisch gekocht, es gibt überhaupt keine Tiefkühlware und jeden Tag wird frisches Brot gebacken. Da hat das Essen gleich viel mehr Spaß gemacht.“ Ihr persönliches Highlight: „Sogar der Fisch kam im Ganzen und wir haben ihn zerlegt. Das mitzuerleben, war einfach toll!“

Auch Lehrer sammeln Auslandserfahrung

Über Erasmus+ können aber nicht nur Schüler, sondern auch Lehrer ins Ausland gehen. Sibylle Rößler hat zum Beispiel ein Praktikum in einer Kinderpflege-Einrichtung in Irland absolviert. Vieles laufe dort deutlich chaotischer ab als in Deutschland, aber auch das sei eine hilfreiche Erfahrung: „Zurück in Deutschland weiß man unsere geordnete Struktur dann gleich viel mehr zu schätzen“, schmunzelt sie. Sehr positiv in Erinnerung geblieben ist ihr die Herzlichkeit der irischen Kinderpflegerinnen: „Die drücken und herzen die Kinder viel häufiger. Etwas, das in Deutschland oft nicht so erwünscht ist, ist dort ganz normal – ich fand das toll!“ Beatrice, Hicran und Katharina sind überzeugt: Der Auslandsaufenthalt hat ihnen viel gebracht – beruflich und auch privat. „Man nimmt die Sprache mit, die Kultur, die Einstellung der Menschen – das ist einfach eine tolle Erfahrung“, sagt Hicran und Katharina glaubt sogar, ein etwas anderer Mensch geworden zu sein: „Ich habe mir etwas von der norwegischen Gelassenheit abgeschaut und bin als viel ruhigerer Mensch zurückgekommen.“ Beatrice will am liebsten gleich wieder los, das Auslandsfieber hat sie gepackt. Ein Aufenthalt in Irland ist schon in Planung.

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Beatrice Roth während ihrem Aufenthalt in Norwegen.
@Beatrice Roth

Vom Ausland lernen - Interview mit Stephan Plichta



Stephan Plichta, Diplom-Pädagoge und Studiendirektor, koordiniert am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in München das EU-Bildungsprogramm ERASMUS+ im Bereich Berufsbildung und leitet eine „Strategische Partnerschaft“ zum Thema Digitale Bildung. Im Interview erklärt er, wie Ideen und Anregungen aus anderen Ländern die Bildung in Deutschland verbessern könnten.

 

HERZKAMMER: Das Programm Erasmus + ermöglicht nicht nur Schülern, Studierenden und Lehrkräften spannende Auslandsaufenthalte, sondern fördert auch „Strategische Partnerschaften“. Was genau steckt dahinter?

STEPHAN PLICHTA: Bei den „Strategischen Partnerschaften“ geht es darum, sich länderübergreifend mit bildungspolitischen Großthemen auseinander zu setzen. Inklusion, Integration, Digitale Bildung usw. - all das sind Themen, die in ganz Europa auf der Agenda stehen. Im Rahmen des Programms Erasmus + gibt es die Möglichkeit, sich mit anderen Ländern zusammen zu tun, um gemeinsam Ideen und Konzepte zu entwickeln.

HERZKAMMER: Wie sieht die Zusammenarbeit aus?

STEPHAN PLICHTA: Die Idee hinter den Strategischen Partnerschaften ist, dass es überall in Europa herausragende Beispiele für bestimmte Bildungsbereiche gibt und dass man viel von anderen Ländern lernen kann. Ich habe zum Beispiel eine Strategische Partnerschaft mit dem Titel „Transforming VET to 4.0“, dabei geht es um die Digitalisierung in der Beruflichen Bildung. Die Berufliche Bildung hat in diesem Bereich deutliche Defizite und hinkt dem Fortschritt der Industrie hinterher. Wie schaffen wir es, diese Lücke zu schließen? Wie müssen Lehrer ausgebildet werden, um mit dem Fortschritt der Digitalisierung mithalten zu können? Und wie müssen die Bildungseinrichtungen der Zukunft ausgestattet sein? Das sind die Kernfragen, mit denen wir uns im Rahmen des zweijährigen Projekts beschäftigen. Wir arbeiten unter anderem mit Kollegen aus Bildungseinrichtungen in Finnland, den Niederlanden und Island zusammen und wollen gemeinsam Kriterien für die Qualifikation von Lehrkräften in der Beruflichen Bildung entwickeln. Im Rahmen der Strategischen Partnerschaft fahren wir zu den einzelnen Einrichtungen und schauen uns an, was dort anders oder besonders gut gemacht wird.

HERZKAMMER: Was zeichnet denn die verschiedenen Einrichtungen aus?

STEPHAN PLICHTA: Wir haben zum Beispiel ein großes Berufsschulzentrum aus Finnland dabei. Die sind sehr fortschrittlich in Sachen digitale Bildung und zeigen uns, dass Digitalisierung auch in eigentlich eher analogen Bereichen wie dem Frisörhandwerk eine immer größere Bedeutung hat. Unser Partner in den Niederlanden ist eine Hochschule, die ein Experimentierlabor für digitale Bildung aufgebaut hat. Die zeigen uns Perspektiven für die Vermittlung digitaler Kompetenzen auf, da geht es zum Beispiel um das Lernen mit Virtual-Reality-Brillen oder Robotertechnik. Der Bereich Erwachsenenbildung wird durch unseren Partner in Island abgedeckt. Digitalisierung spielt nämlich auch nach Ende der beruflichen Ausbildung immer noch eine wichtige Rolle! In Island wird sehr großen Wert darauf gelegt, auch diejenigen Menschen aufzufangen und mit konkreten Angeboten anzusprechen, die sich bisher noch gar nicht mit digitalen Medien beschäftigt haben. Das kommt bei uns in Deutschland oft noch viel zu kurz. Hier bei uns in Bayern arbeiten wir eng mit der Akademie für Lehrerbildung in Dillingen und mit der IHK zusammen. Wir werden zum Beispiel einen Tag bei Audi verbringen und uns die Bedeutung von Digitalisierung in der Industrie vor Ort anschauen.

HERZKAMMER: Gibt es Länder, von denen man sich in Sachen digitale Bildung besonders viel abschauen kann?

STEPHAN PLICHTA: So pauschal kann man das nicht sagen, es gibt einfach immer wieder Leuchtturmprojekte, die durch besonders gute Ausstattung oder besonders engagierte Lehrkräfte hervorstechen und von denen man wahnsinnig viel lernen kann. Ein Kollege war kürzlich in Rumänien und hat von tollen Ideen und Ansätzen berichtet, die es dort gibt. Meiner Erfahrung nach sind auch die Baltischen Länder wie Estland wirklich top in Sachen Digitale Bildung.

HERZKAMMER: Warum ist es so wichtig, den Blick über den Tellerrand zu wagen und sich mit anderen Ländern auszutauschen?

STEPHAN PLICHTA: Die Gefahr ist groß, dass man zu sehr in seiner eigenen Welt lebt und davon überzeugt ist, alles gut und richtig zu machen. Ich selbst war zum Beispiel immer sicher, ein guter Lehrer zu sein und zu wissen, was gute Lehre ausmacht. Durch die Zusammenarbeit und den Kontakt mit anderen Ländern hat sich meine Vorstellung davon, was guter Unterricht ist und was gute Ausstattung bedeutet, grundlegend verändert. Ganz besonders prägend war für mich ein Besuch an einer Schule in Dänemark: Dort steht das Konzept „Lebensraum Schule“ im Vordergrund. Schule wird dort nicht als etwas Negatives wahrgenommen, sondern als ein Ort, an dem man sich wohlfühlt und gerne Zeit verbringt. Einen Gong wie bei uns gibt es nicht, alles ist viel freier gestaltet. Überall in der Schule stehen Tischtennisplatten, die Turnhalle ist immer geöffnet und es gibt ein Fitnesscenter, das die Schüler und Lehrer kostenfrei nutzen können. Die Schule hat nicht nur einen top ausgestatteten IT-Raum, sondern auch einen IT-Support, bei dem Schüler jederzeit einen kompetenten Ansprechpartner finden. Es gibt einen Musikraum und ein kleines Tonstudio, das die Schüler jederzeit nutzen können, so genannte „Study Cafés“ laden zum gemütlichen Lernen ein - und das sind nur einige Bespiele für unendlich viele Möglichkeiten, die die Schule zum Wohlfühlort machen. Ich habe in Dänemark eine ganz andere Schulkultur kennengelernt und glaube, dass wir uns von dem dänischen Konzept viel abschauen können.

HERZKAMMER: Müsste es künftig mehr europäische Zusammenarbeit im Bildungsbereich geben?

STEPHAN PLICHTA: Auf jeden Fall! In der Industrie geht heutzutage nichts mehr ohne internationale Kontakte, ohne den intensiven Austausch mit anderen Ländern. Das gleiche sollte für den Bereich Bildung auch gelten!

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Im Interview mit Stephan Plichta, Diplom-Pädagoge und Studiendirektor.
@Stephan Plichta

Politiker für einen Tag



Einmal im Jahr wird die Turnhalle des Katharinengymnasiums in Ingolstadt zum Europaparlament. Vorne sitzt das Präsidium, davor in halbrunden Tischreihen: Rund 400 Schüler im Business-Outfit, manche sogar mit Krawatte. konzentriert, top vorbereitet und voll motiviert. Klar, der Anlass ist ja auch ein hochoffizieller: Heute geht es um die Zukunft Europas. Jedenfalls um die fiktive Zukunft. In einer Simulation des Europaparlaments bringt das Katharinengymnasium seit mehr als 15 Jahren Jugendlichen Europa-Politik ein Stückchen näher.

Vorbereitet wird die jährliche Sitzung von Schülern der neunten bis elften Klassen, die das Wahlfach „SEP – Simulation Europaparlament“ belegt haben. Gleich zu Beginn des Schuljahres wählen die Schüler ihren Präsidenten, der gemeinsam mit seinen Vizepräsidenten die Leitung der Sitzung übernimmt und die Organisation koordiniert. Ganz wichtig: Beim SEP sollen die Schüler das Sagen haben. Die betreuenden Lehrer mischen sich nur ein, wenn mal gar nichts mehr läuft. Dieses Jahr ist der 18-jährige Nils Präsident. Politik, vor allem Europa-Politik, sei oft so wenig greifbar, so weit weg von der Lebenswelt junger Leute, sagt Nils. „Das SEP ist eine super Gelegenheit, um sich aktiv mit Politik auseinander zu setzen.“ Als Präsident hatte er in den vergangenen Monaten viel zu tun: Reden konzipieren und schreiben, Sitzordnung festlegen und das Wichtigste: zwei Resolutionen vorbereiten, über die dann bei der großen Sitzung im April debattiert und abgestimmt wird.

So realitätsnah wie möglich

Die Sitzung läuft dann so realitätsnah wie möglich ab, erklärt der 17-jährige Veit, einer der diesjährigen Vizepräsidenten: „Der Präsident hält eine Eröffnungsrede. Dann gibt es eine Einführungsrede zum jeweiligen Thema, darauf folgt die offene Debatte mit Angriffsreden aus dem Plenum und Verteidigungsreden aus dem Ausschuss und anschließend die Beschlussfassung.“ Jede Klasse vertritt ein anderes Land. Einziger Unterschied zum echten Europaparlament: Es gibt keine politischen Parteien. Tanja Blendinger, die das Wahlfach als Lehrerin betreut, ist von der Professionalität ihrer Schüler beeindruckt: „Das Projekt ist ein echter Selbstläufer. Die Schüler sind von Anfang an mit Feuereifer dabei, das Engagement und das Interesse ist riesig, da ist man als Lehrer einfach begeistert, wie toll das funktioniert!“ Auch ihre Redebeiträge bereiten die Schüler selbstständig vor. Dabei steht vor allem eine möglichst realistische Sprache und Rhetorik im Vordergrund: „Wir siezen uns natürlich und versuchen, uns sprachlich möglichst gut auszudrücken“, betont Präsident Nils.

Hauptsache, die Debatte war gut

Wie im echten Europaparlament werden auch in Ingolstadt längst nicht alle Resolutionen einfach so durchgewunken. Je nach Thema haben die Abgeordneten – also die Schüler der anderen Klassen – jede Menge Fragen und Diskussionsbedarf. „Letztes Jahr ging es um das Thema Elektromobilität, da ging es ziemlich hoch her“, erinnert sich Nils. Die Resolution wurde am Ende abgelehnt, für die Schüler aber kein Grund für schlechte Laune: „Wenn die Debatte richtig gut war und es gute Wortbeiträge und Gegenargumente gab, kann man es auch gut verkraften, wenn die Resolution nicht durchgeht“, sagt Veit, der auch letztes Jahr schon im Präsidium saß. „Bei der Disziplin“, so Vizepräsidentin Michèle, „kann sich der ein oder andere Europaabgeordnete ein Beispiel an uns nehmen.“ Zur Vorbereitung hat sie sich Videos von Sitzungen des Europaparlaments im Internet angeschaut und war überrascht von den vielen Zwischenrufen oder darüber, wieviel Aufmerksamkeit den Handys statt dem Präsidium gewidmet wurde.

Europaparlament als Schule fürs Leben

Beim SEP gehe es längst nicht nur darum, Verständnis für politische Themen und Entscheidungsprozesse zu entwickeln, betont Lehrerin Tanja Blendinger. „Die Schüler lernen einen guten Umgang miteinander, sie müssen sich sprachlich gut ausdrücken,  rhetorisch überzeugen, sich vor einer großen Gruppe präsentieren – das Projekt ist einfach eine super Schule fürs Leben!“ Und auch das Selbstbewusstsein der Schüler wird ordentlich gepusht: „Eine Rede vor einem so großen Publikum mit 400 Leuten zu halten, das ist schon was Besonderes und macht mich natürlich auch ein bisschen stolz“, sagt die 16-jährige Michèle, die in diesem Jahr schon zum zweiten Mal beim SEP dabei ist. „Nach dem SEP-Training ist künftig wahrscheinlich jedes Bewerbungsgespräch total easy “, sagt Veit schmunzelnd. Später selbst Politiker werden? Das können die vier Präsidiums-Mitglieder aus Ingolstadt sich im Moment zwar nicht vorstellen, aber sie sind sich einig: Ein SEP sollte es an möglichst vielen Schulen geben. „Das bringt Jugendlichen die Politik näher und macht einfach wahnsinnig viel Spaß“, sagt Vizepräsidentin Deborah. Das Ziel der Schüler für die Sitzung im April: Plastiktüten in ganz Europa verbieten! Ob sie das erreichen, werden die Abgeordneten entscheiden. Und vielleicht wird ja auch der eine oder andere echte Politiker auf die Ideen der Schüler aufmerksam?

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Hauptsache die Debatte war gut.
@Katharinengymnasium Ingolstadt
Bildquelle Header: Europäische Kommission