Interview mit Prof. Dr. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung Tutzing
In einem Interview vom Juni dieses Jahres haben Sie den Satz gesagt: „Nicht nur die Gemeinde muss liefern, sondern jeder von uns. Die Gesellschaft und damit auch unsere Kommunen werden erst lebendig durch Teilhabe und Engagement." Wie steht es aktuell um das Engagement der Menschen für die eigene Gemeinde oder das Heimatdorf?
Die Leute engagieren sich. In vielfältiger Weise. Aber die meisten engagieren sich am liebsten für ein bestimmtes Thema, in dem sie etwas voranbringen beziehungsweise vor allem etwas verhindern wollen. Dabei geht es oft um das ganz persönliche Interesse. Die Amerikaner bezeichnen das als „NIMBY"-Verhalten: „Not in my backyard".
Je unübersichtlicher die Weltpolitik wird, desto mehr neigen wir dazu, wenigstens unseren eigenen „Vorgarten", also unser persönliches Umfeld, zu kontrollieren: Da sind Konflikte mit übergeordneten Interessen zum Beispiel in der Energie-, Verkehrs- oder Umweltpolitik fast unvermeidlich.
Wie wirkt sich bürgerschaftliches Engagement auf die Identifikation mit der eigenen Kommune, dem eigenen Umfeld aus?
Es ist wie immer im Leben: Sobald man etwas aktiv mitgestaltet, gewinnt man einen intensiveren Bezug dazu und die dabei gesammelten Erfahrungen wirken sich auch auf einen selbst aus. In der Sozialen Arbeit nennt man das „Selbstermächtigung". Damit ist aber kein Ego-Trip gemeint, sondern der Umstand, dass nicht nur das Gemeinwesen vom bürgerschaftlichen Engagement profitiert, sondern auch die Engagierten selbst: Man wird nicht „behandelt", sondern man handelt selbst – gemeinsam mit anderen. Um sich bei allem Engagement aber nicht zu „verkämpfen", sollte Beteiligung jedoch mit etwas einhergehen: Erstens dem Verständnis dafür, dass viele Leute andere Interessen verfolgen als man selbst und diese Interessen nicht minder legitim sind als meine eigenen. Zweitens einer Tugend, die im angelsächsischen Sprachraum als „loser’s consent" umschrieben wird: Ich akzeptiere eine legitim zustande gekommene Entscheidung auch dann, wenn ich sie inhaltlich ablehne. Aus diesem Grund sind übrigens die häufig als umständlich geschmähten Entscheidungsverfahren so bedeutsam: Sie wirken vertrauensbildend. Wenn man darauf vertrauen kann, dass eine politische Entscheidung korrekt zustande gekommen ist, fällt es mir leichter, sie anzunehmen.
Wie wichtig ist kommunalpolitisches Engagement?
Das Engagement in und für die eigene Gemeinde ist sehr wichtig – aus einem einfachen Grund: Wie wir unseren Alltag meistern und wie es uns und unseren Familien geht, hängt maßgeblich von der Gestaltung unseres direkten Umfelds vor Ort ab. Die Kommunen spielen gerade auch in der Klimapolitik oder beim gesellschaftlichen Miteinander eine zentrale Rolle: Können meine Kinder am Morgen selbstständig zur Schule kommen oder sind aufwändige Fahrdienste erforderlich? Gibt es die Läden für den unmittelbaren Bedarf in der Nähe? Sind die Voraussetzungen gegeben, dass ich meinen Arbeitsplatz ohne großen Aufwand auch mit dem ÖPNV erreichen kann? Bin ich als Handwerker für meine Kunden mobil erreichbar? Welche kulturellen und sonstigen Freizeitangebote gibt es in meinem Stadtviertel oder in der Gemeinde? Kann ich meine Einkäufe vor Ort erledigen? Fühle ich mich auf dem abendlichen Heimweg vom Sportverein sicher? Gibt es in der Gemeinde Sport- und Kulturangebote, die die schon lang im Ort Ansässigen und die Zugezogenen zusammenbringen, oder lebt man nebeneinander her und empfindet die jeweils andere Gruppe womöglich als „Störfaktor"? Über all diese Lebensumstände entscheiden auch die Räte und die Amtsträger vor Ort. Es lohnt, sich daran zu beteiligen.
Ist Kommunalpolitik heute komplizierter als vor 20, 30 Jahren?
Eindeutig. Auch die Kommunalpolitik ist komplizierter und damit anspruchsvoller geworden. Das hängt zum einen damit zusammen, dass all die großen Veränderungen wie Migration, Digitalisierung und Klimawandel sich auch vor unserer Haustür abspielen. Damit landen in den Räten auf einmal ganz neue Themen, in die sich die Ratsmitglieder einarbeiten müssen. Zum anderen sind die Kommunen immer mehr von Vorgaben und Rahmensetzungen der Europäischen Union betroffen: Wenn eine Gemeinde ihren Einheimischen gewisse Vorrechte zugestehen will, muss sie Wettbewerbsverzerrungen vermeiden. Oder sie muss bei der Ausschreibung zum Beispiel von Bauprojekten die Vorgaben der EU beachten. Das ist jeweils gut begründet und sinnvoll – macht aber die Entscheidungsverfahren komplizierter und verlangt allen Beteiligten in Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung viel Sachverstand ab.
Wie lässt sich beim Bürger die Lust auf Kommunalpolitik wecken?
Neben der Aussicht auf die bereits angesprochene „Selbstwirksamkeit" liegt ein besonderer Reiz der Kommunalpolitik darin, dass man unglaublich viel Neues lernt und der damit verbundene neue Blick auf die eigene Gemeinde einen auch selbst bereichert. Das berichten fast alle aktiven Kommunalpolitiker.
Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Respekt und Anerkennung für diejenigen, die sich ehrenamtlich oder hauptamtlich in der Kommunalpolitik engagieren?
Ich fürchte, dass viele Leute, die sich eigentlich gern für ihre Gemeinde engagieren wollen, von der Aussicht abgeschreckt werden, dass selbst ehrenamtlich in der Politik Tätige immer häufiger unsachlicher Kritik und sogar Hetze ausgesetzt sind. Wenn das so weitergeht, finden wir irgendwann keine fähigen Kandidaten mehr. Die Folgen für unser Gemeinwesen dürften allen klar sein. Schon deshalb muss jede und jeder im eigenen privaten Umfeld denen unmissverständlich widersprechen, die meinen, es gehöre zum Amt eines Lokalpolitikers, sich unflätig beschimpfen und womöglich sogar bedrohen lassen zu müssen.
Stichwort Beteiligung: Bürger intensiv in Prozesse einbinden und trotzdem effizient Entscheidungen treffen – ein Widerspruch oder aufzulösen?
Diese Frage ist tatsächlich schwierig zu beantworten: Der einzelne Bürger pocht auf seine Mitwirkungsrechte – selbst dann, wenn Widerspruchsfristen längst verstrichen sind – und gleichzeitig meckert derselbe Bürger aber ungeniert, wie langsam alles in Deutschland gehe. Beides zusammen – intensive Partizipation und Effizienz – lässt sich nie zu 100 Prozent erreichen. Es wäre dringend an der Zeit, dieses Dilemma auf den verschiedenen politischen Ebenen auch öffentlich zu diskutieren und mögliche Lösungswege zu finden – und zwar dann, wenn kein akutes Problem zu lösen ist.
Welche Eigenschaften braucht ein Bürgermeister oder Landrat heute?
Gerade die Amtsinhaber vor Ort haben präsent und gesprächsbereit zu sein. Gleichzeitig muss es ihnen aber gelingen, das zu leisten, was die eigentliche Aufgabe von politischen Entscheidungsträgern ist: Menschen zu überzeugen und vor allem Mehrheiten zu finden, damit Entscheidungen auch getroffen werden können. Bei aller notwendigen Bürgernähe darf man den Leuten also nicht nach dem Mund reden, sondern muss durchsetzungsfähig sein.
Was sagen Sie Frauen und Männern, die gerade noch überlegen, sich für ein kommunales Mandat aufstellen zu lassen?
Mut tut gut.