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Gastbeitrag
Chancen ergreifen

Als die Republik Estland im Jahr 1991 ihre Unabhängigkeit wiedererlangte, waren die Aussichten für eine digitale Transformation alles andere als rosig. Der Staat hatte einen Jahreshaushalt von umgerechnet circa 130 Millionen Euro, ein Bruttoinlandsprodukt von einer Milliarde Euro und etwas so Grundlegendes wie Festnetzanschlüsse gab es so gut wie gar nicht. Innerhalb der vergangenen fast drei Jahrzehnte hat es Estland dennoch vermocht, sich in einer für die Zukunft so bedeutungsträchtigen Kategorie, nämlich der Digitalisierung der Verwaltung beziehungsweise der Gesellschaft, als international wegweisende Kraft zu etablieren. Jener Erfolg beruht darauf, dass die digitale Agenda über mehrere Generationen hinweg priorisiert wurde und sich die Verwaltung mithilfe maßgeschneiderter Informationstechnologie effektiver und nutzerfreundlicher aufgestellt hat.

Heute sind in Estland 99 Prozent aller öffentlichen Verwaltungsleistungen online verfügbar und staatliche wie auch kommunale Verwaltungsorgane nutzen die sogenannte X-Road als Plattform zum sicheren, dezentralen und datenschutzkonformen Datenaustausch untereinander. Beamte des öffentlichen Dienstes, Ärzte, Juristen und Normalbürger nutzen täglich ihre elektronische ID-Karte, um sich online auszuweisen und digital zu unterschreiben. Die estnische Volkswirtschaft fährt jahrein jahraus alleine aufgrund der digitalen Unterschrift Ersparnisse von 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (im Jahr 2018: 26 Milliarden Euro) ein.

Der Schlüssel zum Erfolg? In Estland versteht man Digitalisierung nicht als Selbstzweck, sondern als organisatorisch notwendig. Bürgerinnen und Bürger verlangen vom Staat, dass Bürokratie nicht zum Hindernis wird und notwendige Verwaltungsprozeduren so einfach wie möglich gestaltet werden. Diese Forderung lässt sich nur umsetzen, indem sich der Gesetzgeber der Integration modernster Technologie öffnet, Verantwortung für Veränderungsprozesse übernimmt und auch für die digitale Infrastruktur klare Regeln setzt. Heute sehen wir in Estland, dass die digitale Infrastruktur für eine höhere Transparenz und Flexibilität im Umgang zwischen Staat und Bürger gesorgt hat. Zielführend und nutzerorientiert gestaltet, kann die digitale Transformation Nutzen generieren und das Verhältnis zwischen Bürger und Verwaltung positiver besetzen.

Selbstverständlich bringt diese Transformation Herausforderungen mit sich und Fragen müssen geklärt werden. Wie wird die gesamte Bevölkerung mitgenommen? Wie wird der sichere Umgang mit Daten gewährleistet? In Deutschland erliegt man dabei oft der Illusion, dass auf einen Schlag der große Wurf gelingt, der all diese Herausforderungen auf einmal löst. Das estnische Beispiel verrät, dass die kontinuierlichen kleineren, überschaubareren Schritte auf lange Sicht für den Wandel gesorgt haben. Im Detail bedeutet dies, dass die gesamte Bevölkerung rein strukturell die gleichen Voraussetzungen haben muss, um Teil der digitalen Gesellschaft sein zu können. Schlüssel dafür sind Bildung, lebenslanges Lernen und definitiv auch die elektronische Identität in Estland. Die Nutzung der ID ist nicht verpflichtend, aber gemeinsam mit vermittelten Kompetenzen schafft sie die Basis für den schrittweisen Aufbau und Zugang zu der digitalen Gesellschaft.

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Um eine erfolgreiche digitale Verwaltung aufzubauen, braucht es verschiedene Bausteine. Ein ganz wesentlicher ist die Cybersicherheit.
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In Bezug auf Datensicherheit ist definitiv höchste Aufmerksamkeit gefordert. Gerade weil Estlands Verwaltung digital-by-default ist, steht Cybersicherheit an erster Stelle. Im internationalen Vergleich spielt Estland in dieser Kategorie ganz vorne mit und sorgt mit seinem internationalem Agenda Setting (Tallinn Digital Summit, Tallinn Manual on International Law and Cyber Conflicts and Warfare, Nato CCDCOE’s Locked Shields Übung) für erhöhtes Bewusstsein und Aktivität. Aufgrund der Logbuch-Mechanismen der Datenaustauschplattform X-Road und dem verfassungsrechtlich geschützten Auskunftsrecht hat die Bürgerin beziehungsweise der Bürger zudem jederzeit die Möglichkeit zu sehen, wer Zugriff auf welche Daten genommen hat. Solche Erfahrungswerte helfen dem Bürger, eine größere Souveränität für den Umgang mit der digitalen Welt zu erlangen.

In Estland hat man Informationstechnologie in der Verwaltung als Chance begriffen. Heute teilt Estland seine Erfahrungen bereitwillig mit der Welt, in der Hoffnung, dass so auch internationale Prozesse stärker integriert und für eine erhöhte Kooperation über Ländergrenzen hinweg gesorgt werden kann.

Verstehen Sie diesen Artikel gerne als Einladung: Lassen Sie uns die Zukunft gemeinsam gestalten!

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Tobias J. Koch studierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel internationale Politik und internationales Recht sowie Politikwissenschaften und Skandinavistik. Er trat 2017 dem e-Estonia Showroom bei, um die Erkenntnisse aus Estland in Europa und der Welt zu verbreiten.
@Tobias J. Koch – e-Estonia
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