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Die Lehre vom Lernen
Interview
Lesezeit: 18 Minuten

Herr Prof. Zierer, am Anfang gleich eine ganz persönliche Frage. Sind Sie ein gebildeter Mensch?

Sie starten gleich mit einer wissenschaftlichen Frage, mit der Frage nach dem Bildungsbegriff. Im Kern ist Bildung ein lebenslanger Prozess. Ob jemand gebildet ist, das ist eine Momentaufnahme. Ich würde für mich jetzt sagen: Ja. Aber später am Nachmittag kann es natürlich sein, dass ich meinen Bildungsansprüchen nicht gerecht werde, weil ich mich nicht gut verhalte, jemandem über den Mund fahre oder Ähnliches. Bildung darf man deshalb nicht nur statisch sehen. Wir müssen das Dynamische stärker in den Vordergrund rücken. Bildung ist von Anfang an ein Prozess. Julian Nida-Rümelin nennt Bildung die „Autorschaft seines eigenen Lebens“, die nie abgeschlossen ist.

Was haben Sie zuletzt gelernt?

Ich lerne ständig dazu. Auch dann, wenn ich zum Beispiel meine Kinder Englisch- oder Latein-Vokabeln abfrage. Da habe ich viel vergessen, was ich jetzt wieder lerne. Gerade lerne ich auch viel über Demokratie, weil ich mich für ein Buchprojekt sehr stark mit politischer Theorie beschäftige.

Dabei gibt es doch diesen schönen Satz: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

In diesem Satz steckt ein Funken Wahrheit, aber auch ein Funken Unsinn. Bestimmte Fähigkeiten, wie Laufen und Sprechen, erwirbt man altersabhängig. Da ist der richtige Zeitpunkt entscheidend. In bestimmten Kompetenzbereichen, wie die erste Fremdsprache, schadet es nicht, wenn man früh beginnt. Man sollte es aber nicht überdrehen, zumal die Frage, wie dann gelernt wird, darüber entscheidet, ob der Zeitpunkt der richtige war. Deshalb kann man auch nicht per se sagen: Je früher, desto besser. Außerdem gibt es individuell zeitliche Differenzen. Das ist die Herausforderung in der Pädagogik. 

Höher, schneller, weiter. Im Nachgang zu den Pisa-Studien wurde der Spielraum dafür aber kleiner.

 

Forschendes Lernen in den Kitas, ökonomische Bildung in der ersten Jahrgangsstufe, Programmieren in der Grundschule – all das steht einem Bildungsverständnis, das nicht die Breite, sondern die Tiefe in den Mittelpunkt rückt, diametral gegenüber.

Stimmt der Satz mit Hänschen und Hans auch deshalb nicht mehr, weil unser Leben heute rasanteren Veränderungen unterliegt als das Leben früherer Generationen?

 

Wir haben es da zweifellos mit Spannungsmomenten zu tun, die durch die veränderte Lebenswelt verschärft wahrnehmbar werden. Wir erleben zeitgleich so viele Krisen und Herausforderungen wie nie zuvor. Das führt zur Versuchung, möglichst schnell noch dies und das zu lernen. Ein Beschleunigungswahn ist die Folge. Die Bandbreite der Themen und das hohe Tempo sollten jedoch den Impuls geben, Bildung zeitgemäß zu interpretieren. Sonst verliere ich mich in einem Tempo, das der Bildung nicht gerecht wird. Das Tempo ist nicht alleinseligmachend.  

Sondern?

Besinnung und Vertiefung, aber auch Langeweile. Sie hat einen hohen Bildungswert: mich selbst zu erkennen, meine Motive, Interessen, das, was mich beschäftigt. Kinder können das relativ gut, ihnen ist selten langweilig. Mit dem Alter verlernen wir es aber, mit der Langeweile umzugehen, weil die Lebenswelt eine andere und noch dazu häufig sehr durchgetaktete ist. Mit dem Smartphone gibt es gar keine Langeweile mehr. Es führt mich aus der Langeweile. Es beschäftigt mich. Nachrichten kommen im Minutentakt. Wir sind damit einem ungeheuren Tempo ausgesetzt. Wenn man das nicht selbst steuert, wird man zum Getriebenen. Man muss die Zeit im Blick behalten und nicht nur Belastungs-, sondern auch Besinnungsphasen einteilen. 

Wie lange hält unter diesen Umständen das, was wir heute lernen, der rasanten Entwicklung stand?

In Artikel 131 der Bayerischen Verfassung heißt es: „Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.“ Und in Artikel 1 des Grundgesetzes ist die Menschenwürde verankert, die den Kern unseres Demokratieverständnisses bildet. Herz und Charakter zu bilden, die Menschenwürde anzuerkennen, all das ist ungeheuer bedeutsam für unsere Gesellschaft und das überdauert auch. Herz und Charakter tragen durchs Leben, auch wenn das Wissen sich verändert. Und sie sind entscheidend, um dem Tempo der Welt gerecht werden zu können. Kreativität, die Fähigkeit, Fehler als Chance zu sehen, neue Wege zu gehen, mit anderen in Austausch zu treten, diese zentralen Beständigkeiten eines werteorientierten Lebens sind wesentlich für das Bildungsverständnis. Wissen allein ist dagegen viel flüchtiger. Leider wird das Bildungssystem diesem Anspruch der Bayerischen Verfassung nicht immer gerecht. In der Antike galt als Ziel von Bildung das glückliche Leben. Heute sind es Gymnasium, Abitur, Studium. Dabei braucht man keine akademischen Weihen, um glücklich zu sein.  

Schon vor Jahren haben Umfragen ergeben, dass in Deutschland nur noch zwei Prozent der Eltern für ihr Kind den Besuch der Hauptschule wünschen. Das Gymnasium ist die bevorzugte Schule. Es scheint jedenfalls ein gewisses Bildungsbewusstsein in unserer Gesellschaft zu geben. 

Bildung hält im Kern unsere Gesellschaft zusammen. Das Bildungsniveau steht in direktem Zusammenhang mit der Wirtschaftskraft. Und auch mit Blick auf die Demokratiefähigkeit gibt es einen direkten Zusammenhang. Je höher das Bildungsniveau, desto größer ist auch das ehrenamtliche Engagement. Mit dem Bildungsniveau wächst das Vertrauen in das politische System. Und gebildete Menschen gehen auch eher zur Wahl. Der Staat muss in Bildung investieren, damit die Demokratie erhalten bleibt, und er sollte sich nicht nur an den Krisen abarbeiten. Diese Zusammenhänge werden leider heute nicht erkannt oder einseitig akademisch interpretiert. Insofern würde ich auf Ihre Frage antworten: Unsere Gesellschaft ist zu wenig bildungsbewusst. Das Bildungsniveau sinkt schon seit Jahren. Das wird deutlich an den Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen. Der Trend zeichnete sich schon vor Corona ab und wurde durch Corona verstärkt. Aus pädagogischer Sicht war das sehr früh sichtbar. Wenn man das anspricht, nickt jeder, aber es passiert nichts. Der Elternwunsch nach einer Gymnasialbildung ist mehr Ausdruck einer Bildungsmisere als ein Beleg für Bildungsbewusstsein.

Würden Sie das bitte konkretisieren. 

Nehmen Sie die Pandemie: Wir hatten den besten Notendurchschnitt beim Abitur. Auf den ersten Blick sind wir bestens durch die Pandemie gekommen. Aber auf den zweiten Blick ist dieser Schluss unsinnig. Zum einen darf man nicht übersehen, dass sich die Leistung eines Bildungssystems nicht nur am Gymnasium ablesen lässt. Zum anderen muss man anerkennen, dass die Abituraufgaben angepasst wurden. Ich möchte hier nicht alles schlecht reden. Für diesen Abiturjahrgang war es richtig, die Aufgaben anzupassen. Und die Politik hat viel Geld in die Hand genommen, um die Schulen ans Netz zu bringen. Auch das war gut. Aber mit Geld allein wird kein gutes Bildungssystem gemacht – schon gar nicht, wenn nur in die Technik investiert wird. Es wäre an der Zeit, auf die Pandemie kritisch-konstruktiv zurückzuschauen und für morgen zu lernen.

Was kann man aus der Rückschau für die Zukunft lernen? Wie muss Schule sich mit Blick auf das Jahr 2030 verändern? 

Wir müssen bei den Schülern, den Eltern und den Lehrern ansetzen. Welche Schüler sind denn besonders erfolgreich durch die Corona-Pandemie gekommen? Das waren all jene, die ein hohes Maß an Selbstorganisation und Lernstrategien hatten. Auf diese Schlüsselkompetenzen kommt es auch in Zukunft an. Es geht nicht so sehr um das Wissen und Können. Auch wenn wir uns darauf konzentrieren und diese kognitive Schlagseite während der Corona-Pandemie sogar noch verstärkt wurde, finde ich, dass wir unterm Strich weniger PISA und mehr Herzens- und Charakterbildung brauchen. In Artikel 131 unserer Verfassung werden übrigens keine Fächer genannt, sondern Werte. 

In den Lehrplänen führen die aber eher ein Schattendasein.

Da brauchen wir für mein Dafürhalten tatsächlich eine Neugewichtung. Wir sollten daher auch Kunst, Musik und Sport mehr ins Zentrum rücken. Diese Fächer haben einen überaus großen Bildungsgehalt. Da geht es mehr als in anderen Fächern um Kommunikation, Kooperation, Kreativität und Fehlerkultur, also um Werte und Schlüsselkompetenzen. Und wir sollten die Lehrpläne entrümpeln: Differential- und Integralrechnung in höchsten Sphären, komplexe Zahlen und vieles mehr. Das fordere ich jetzt als leidenschaftlicher Mathematiker. Fachlich ist das durchaus spannend, aber der Großteil wird das später nicht brauchen. Sicher Maßeinheiten umzurechnen ist wichtiger. Den Lehrplänen fehlt, gerade am Gymnasium, die Lebensnähe und die Zukunftsbedeutung. Auch die Kombinatorik in der Grundschule ist so eine Sache. Das ist eine fachliche Spielerei, durchaus spannend für wenige, aber für die Breite nicht geeignet. Hier wäre mit zuverlässigem Rechnen mehr gewonnen. 

Schulische Bildung steht und fällt mit den Lehrern.

Lehrerbildung ist ganz entscheidend. Es gibt da aber ein paar Mechanismen, die Lehrerbildung erschweren. Nicht umsonst sagt John Hattie, dass die Lehrerbildung die notleidendste Institution weltweit ist. In meiner Schulpädagogik-Vorlesung an der Uni Augsburg sitzen über tausend Leute. Während eines Semesters komme ich davon vielleicht mit 40 oder 50 ins Gespräch. Die Gefahr, dass Hochschulbildung damit zur reinen Wissensvermittlung verkommt, ist groß. Derweil wissen wir aus Forschungen: Der Einfluss von Lehrkräften hängt vor allem von ihrer Haltung ab, nicht so sehr vom Fachwissen. Wir brauchen also eine Lehrerbildung, die Haltungen ins Zentrum rückt. Beispielsweise ist es ein großer Unterschied, ob der Fehler, den ein Schüler gemacht hat, als Makel begriffen wird oder als Motor im Lernprozess. Dahinterstehend steckt auch die Frage, was mir als Lehrer in der Vermittlung gelungen ist und was nicht. 

Also das tatsächliche Interesse des Lehrers an seinen Schülern, das ja schon Friedrich Schleiermacher als grundlegend für Bildung erachtet hat. 

Genau. Dazu gerne noch ein Beispiel. Steht am Ende einer Schulaufgabe ein Notendurchschnitt von 4,3, heißt das nicht nur, dass die Schüler schlecht gelernt haben. Ich als Lehrperson bin mindestens ebenso gefordert, um die Fehler aufzuarbeiten, die Lücken zu schließen und einen Schritt voranzukommen. Lehrer haben einen überaus wichtigen Job. Und daraufhin müssen wir die Lehrerbildung ausrichten. Lehrer müssen Teamplayer sein. Das derzeitige System macht sie aber zu Einzelkämpfern. Die Feminisierung des Lehrerberufs, die mit viel Teilzeit einhergeht, tut ihr Übriges, weil das die Zusammenarbeit erschwert. Und das in Aussicht gestellte A13 kann dieses Problem sogar noch verstärken, wenn einige Lehrer ihre Arbeitszeit sogar noch weiter reduzieren, weil sie mit der Gehaltserhöhung dann genauso viel verdienen wie im Moment. Gleichzeitig müssen wir auch die Schulleitungen qualifizieren. Da muss mehr die Führung und Gestaltung von Schule im Blick sein und nicht nur Verwaltung. 

Ein pensionierter Direktor hat kürzlich in einem Interview einmal davon gesprochen, dass Schule von Eltern mehr und mehr als „niedere Serviceleistung“ des Staates begriffen würde. Zur Ehrenrettung der bayerischen Eltern sei gesagt, dass es sich um eine Schule in der Schweiz handelte.

Bildungserfolg ist immer das Ergebnis einer gelungenen Zusammenarbeit von Schule und Familie. Das Engagement der Eltern bei der Erziehung reicht von überbehütet bis verwahrlost. Im Grundgesetz heißt es, dass Eltern die erste Erziehungspflicht haben. Eltern in die Pflicht zu nehmen, ist daher richtig und wichtig. 

Wie kann das gelingen? 

Elternarbeit an der Schule sollte stärker auf Augenhöhe erfolgen. Während der Corona-Pandemie ist die Elternarbeit aber vielfach eingeschlafen. Und weil es so praktisch ist, wird sie jetzt vielfach digital fortgesetzt. Davor warne ich. Eltern und Lehrer, aber auch Eltern untereinander müssen in den direkten Austausch treten können – regelmäßig, vielfältig und herausfordernd. Elternabende als informative Einbahnstraße als ausschließlicher Baustein einer Elternarbeit sind hier fehl am Platz. Wenn Eltern auf Stühlen für Erstklässler sitzen und am Ende steht, dass der Lehrer zwar viel gesagt hat, aber nicht gesprochen wurde, dann ist das nicht wirksam. Ein innovatives Verständnis von Elternarbeit muss daher frühzeitig in der Lehrerbildung ein Thema sein. Schule braucht den engen Schulterschluss mit den Eltern, gerade auch beim Umgang mit den digitalen Medien. 

Oft gewinnt man bei bildungspolitischen Diskussionen den Eindruck, als müsse man Schule nur „digitaler“ machen und schon seien alle Probleme gelöst und alles sei besser. Was ist eigentlich gemeint, wenn wir mit Blick auf die Schule von Digitalisierung sprechen und was kann und muss Schule hier leisten?

Grundsätzlich muss man sagen, dass es längst nicht mehr darum geht, ob Schule sich damit überhaupt auseinandersetzen muss. Digitalisierung ist Teil des Lebens. Sie verändert, wie Menschen fühlen, denken und handeln. Wenn wir von Digitalisierung in der Schule sprechen, geht es um zwei Perspektiven: Zum einen um die Auseinandersetzung mit digitalen Medien als Lerngegenstand, also beispielsweise um die Frage, wie soziale Medien unsere Öffentlichkeit und unsere Demokratie verändern. Aus meiner Sicht die Herausforderung unserer Zeit. Zum anderen um den Einsatz von digitalen Medien zur Optimierung von Lernprozessen, also wann und wie ich zum Beispiel Tablets, Apps, Smartboards einsetze, um meine Lernleistungen zu verbessern. Aus der empirischen Forschung weiß man, dass aus einem schlechten Unterricht auch mit noch so viel Digitalisierung nicht automatisch ein guter Unterricht wird. 

Die Erwartungen, die mit der Digitalisierung einhergehen, machen also blind für die Fallstricke.

Man darf nicht naiv an das Thema herangehen. Ein Beispiel hierzu: In der Grundschule wenden wir vier Jahre dafür auf, den Schülern eine saubere Heftführung beizubringen. Das gelingt nicht bei allen. Und jetzt gehen wir her, drücken den Kindern die Tablets in die Hände und gehen davon aus, dass das so einfach funktioniert. Das tut es eben nicht! Schüler brauchen eine Anleitung, um die Möglichkeiten und die Grenzen von Medien im allgemeinen Sinn zu erkennen. Und weil das Smartphone heute allgegenwärtig ist: Studien zeigen, dass das Ablenkungspotenzial des Smartphones immens ist und zu einer Reduzierung der Aufmerksamkeit und der Lernleistung führt.

Lassen Sie uns auch noch die berufliche Bildung ansprechen, um die uns viele Länder beneiden. Immer mehr junge Leute machen mit einem immer besseren Notenschnitt Abitur. Schon ist die Rede vom Ausverkauf des Abiturs. Und gleichzeitig warten wir viele Wochen, wenn wir ein Problem mit der Heizung haben oder in der Wohnung etwas repariert werden muss. 

In vielen Berufen sehen wir einen Akademisierungswahn. Zuletzt wurde die Hebammenausbildung an die Hochschulen verlegt. Die damit verbundene Hoffnung ist manchmal leider auch das einzige Ziel: mehr Geld zu verdienen. Ob dadurch die Ausbildung fachlich besser wird, wird in der Regel nicht geprüft, weil scheinbar gilt: akademisch ist gut. Dies manifestiert aus meiner Sicht ein grundlegendes Verständnis- und Kommunikationsproblem. Hans Maier, der von 1970 bis 1986 bayerischer Kultusminister war, hat den Satz geprägt: „Kein Abschluss ohne Anschluss.“ Wir müssen sichtbar machen, dass es kein schlechter Weg ist, wenn ein Kind kein Abitur hat und eine Lehre macht. Damit können wir auch Eltern den Druck nehmen, dass die Hürde Abitur gleich beim ersten Mal genommen werden muss. Es ist doch ein Fehler im System, wenn die Hälfte der Grundschüler aufs Gymnasium wechselt und von den Abiturienten 50 Prozent einen Einser-Schnitt haben, gleichzeitig aber die Kompetenzen, gemessen mit PISA und Co., runtergehen. Die Zunahme der guten Abschlüsse ist stetig. Die Zahlen von meinem Gymnasium: 1970 waren es noch zwei von achtzig, die ein Einser-Abitur hatten, Mitte der 90er-Jahre acht von achtzig und jetzt sind wir bei fünfzig von achtzig. 

Wenn wir weiterdenken, stellt diese Entwicklung die Dreigliedrigkeit des Schulsystems in Frage. 

Darüber müssen wir in Bayern reden. Nach wie vor bin ich ein Verfechter der Dreigliedrigkeit. In anderen Ländern war die Auflösung der Dreigliedrigkeit nicht zum Wohl des Bildungssystems. Aber damit die Dreigliedrigkeit eine Zukunft hat, sind grundlegende Reformen nötig. Damit verbunden ist auch die Frage der Lehrerbildung. Vor sieben Jahren begannen allein an der Uni Augsburg 320 Studenten das Studium Lehramt Mittelschule. Im aktuellen Semester sind es gerade einmal 50. Dieses Problem verschärft sich massiv. Wir müssen es angehen, sonst müssen wir die Mittelschulen zumachen, weil wir keine Lehrer mehr haben. 

Bildung ist ein weites Feld. Bevor wir zum Ende kommen noch ein paar Schnellschussfragen: Bildungsgerechtigkeit oder Bildungsgleichheit?

Bildungsgerechtigkeit. Bildungsgleichheit ist in der Konsequenz unsinnig. Damit wird man dem Menschen nicht gerecht. Wir müssen Menschen unterschiedlich behandeln, weil sie unterschiedlich sind.

Bildungsföderalismus oder Bildungszentralismus?

Föderalismus. Föderalismus ist bei allen Schwierigkeiten und eingefahrenen Wegen immer besser als Zentralismus. Föderalismus ist der Motor für Entwicklung und ein Ansporn, um miteinander über Bildung ins Gespräch zu kommen. Ich plädiere aber für eine Reform der Kultusministerkonferenz, damit dort mehr über Bildung diskutiert werden kann.

 

Beim Studium Lehramt Grundschule oder Lehramt Gymnasium?

Grundschule. Ich habe damals überlegt, ob Grundschule oder Gymnasium. Die Alternative wäre Landschaftspflege gewesen, da hätte ich im Nachrückverfahren auch einen Studienplatz bekommen. 

Weshalb haben Sie sich damals für das Lehramt an Grundschulen entschieden? 

Es gibt keinen Beruf, der schöner ist, weil keiner näher an den Potenzialen der Menschen dran ist. Kinder zu motivieren, zu sehen, wie Beziehungen und Gemeinschaft entstehen, die Freude der Kinder, wenn gemeinsam etwas gelingt, und die Fortschritte, die sie gemeinsam machen, zu beobachten, das ist unglaublich schön. Mit Kindern zu arbeiten, ihnen Orientierung und Werte zu geben, sie zu begeistern, mitzunehmen, weiterzubringen, das ist an der Grundschule besonders ausgeprägt. Und das Klassenleiterprinzip eröffnet einem Grundschullehrer noch dazu viele Freiheiten, weil es ihn den Tag frei strukturieren lässt. Jedem jungen Menschen, der ein Lehramtsstudium anstrebt, würde ich dazu raten.

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Prof. Dr. Klaus Zierer ist Professor für Schulpädagogik an der Universität Augsburg und Associated Research Fellow an der University of Oxford. Er gilt als einer der wichtigsten Bildungsforscher des Landes und ist Mit-Autor des Nationalen Bildungsberichts 2020. Zierer studierte von 1996 bis 2001 Grundschulpädagogik und war von 2004 bis 2009 als Grundschullehrer tätig.
@Fred Schöllhorn
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